Ende der 1970er Jahre standen für meine Schwester Katharina Wolfrum und ihren
Mann, den Radiologen Dr. Manfred Wolfrum fest, dass sie in der Gegend um Wolfenbüttel
sesshaft bleiben wollten. Jedoch wollten sie ein ruhigeres Umfeld für ihre Kinder
und mehr Platz, um ihre Projekte zu gestalten. In der Stadt selbst war nichts Adäquates
zu finden. So schauten sie sich im Umland um. Von der Stadt aufs Land zu
ziehen, war seit den letzten zehn Jahren nicht unüblich mehr in dieser Zeit.
Dettum – das Dorf im Umbruch
Recht bald war der Borcherssche Hof in Dettum auf der Liste der Möglichkeiten. Das
große Dorf bot damals noch alles, was für die Versorgung einer Familie nötig war: ein
Kindergarten, gleich daneben eine Grundschule und sogar ein Freiluftbad. Dazu eine
intakte Kirchengemeinde, zwei Gaststätten, funktionierende Sportanlagen. Zwei Einkaufsläden,
eine Bäckerei und zwei Bankfilialen, zwei Postkästen und zwei (!) Kaugummiautomaten,
dazu die Haltestelle für den Bus der Kreisbücherei. Der Dorfarzt hatte seine Praxis im Ort und kam im Notfall auch gerne mal ins Haus. Wollte man
nach Wolfenbüttel – oder später die Kinder zum Gymnasium, gab es den Bahnhof mit
dem Pendelzug zwischen Schöppenstedt und Wolfenbüttel, gar Braunschweig. Außerdem fuhr täglich mehrfach der Bus und vom Nachbarörtchen Hachum sogar in direkter
Linie nach Braunschweig.
Und doch war das Dorf im Umbruch: Die Schule war schon längst keine Dorfschule
mehr, sondern eine wachsende Mittelpunktschule. Kleine und mittlere Bauernhöfe gaben
auf: teilweise war die Betriebsgröße unrentabel geworden, teilweise gab es keinen
aus der Familie, der übernehmen wollte. Das nahe VW-Werk lockte dann doch viele
mit sehr attraktiven Löhnen und stattlichen Betriebsrenten. Das Dorf wurde für die
schon lange dort lebenden Menschen eher zum Schlafdorf.
Gleichzeitig war die Lage und die Versorgung des Dorfes so attraktiv, dass Neubaugebiete
an der Peripherie ausgewiesen werden konnten, die schnell verkauft waren. So
änderte sich die demographische Zusammensetzung Dettums vom von bäuerlichen
Klein- und Großbetrieben geprägten Dorf zu einem Ort, in dem Hinzugezogene bald
die Mehrheit stellen sollten.
Der Borchers-Hof
Schräg gegenüber der imposanten Dorfkirche liegt dieser Dreiseithof. Rechts in Längsrichtung,
mit dem Giebel an der Straße, wie bei den Dreiseithöfen üblich, das ehemalige
Landvogthaus, ein großzügiges Wohnhaus stabil gebaut mit Fachwerk aus 300 Jahre alten Eichenbalken. Dahinter schloss sich der Pferdestall mit geräumigen Boxen und einem 160 qm großen Heuboden an. Quer dazu ganz hinten die großräumige Scheune
mit Durchfahrt von der Parkstraße. Längs dazu schloss sich linker Hand der weiträumige
damals schon moderne Kuhstall mit getrennten Futter- und Mistgängen an. Er war gemauert
und auf Eisensäulen, die oben mit geschmückten Kapitellen abschlossen, ruhte
eine massive Kappendecke, auch Berliner Decke oder Preußische Decke, in den tragenden
Doppel-T-Trägern. Darüber ein geräumiger Strohschober, mit Falltüren so dass das
Stroh direkt auf die Versorgungsgänge des Stalles geworfen werden konnte. Versetzt
dazu schloss sich der Hühnerstall an mit einer Grundfläche von 220 m2 ausgelegt für
mindestens 2.000 Hühner über zwei Etagen in „Bodenhaltung“. Dieser Stall reichte bis
vorne an die Hauptstraße, so dass zwischen Wohnhaus und Hühnerstall das Haupteinfahrtstor
war. Insgesamt also ein wirklich stattliches Anwesen, ein repräsentativer niedersächsischer
Dreiseithof, der in früheren Zeiten auch als Landvogthof dem Landvogt
als Wohn- und Regierungsstätte gedient hatte. Es ist leider nichts darüber bekannt, ob
und in welchem Umfang die alten Landvogtrechte, wie „der 10. Scheffel Korn“ auf spätere
Besitzer übergegangen sind. Lediglich bekannt ist, dass durch einen Doppelmord des
Schweizers (Melker) Winkler an seiner Herrin Sidonie Schmidt und ihrer Haushälterin
der Hof später an Bauer Borchers übergegangen war.
Nun hatte die Familie Schneider, Nachfolger von Bauer Borchers, die Landwirtschaft
aufgegeben. Das Ackerland war an den neu aus Salzgitter zugezogenen Bauer Bruer
verkauft. Die Stallungen waren leer, die Maschinen und Fahrzeuge verkauft, der
Bauerngarten überwuchert. Hühner, Pferde, Kühe gab es nicht mehr, Funktionsbereiche
wie Waschküche, Werkstatt, Lagerräume für Getreide, Heu, Obst nur noch wenig
erkennbar. Der Hof als Wirkungsstätte eines Landwirtschaftsbetriebs und Lebensmittelpunkt s
einer Bauernfamilie mit Gesellen, Knechten und Erntehelfern gab es so nicht
mehr. Dem Gebäude-Ensemble musste – wie so viele andere Höfe in Dettum und anderen
Dörfern – ein neuer Mittelpunkt gegeben werden:
Vom Hof also zum (Wohn)Haus
Bei der Modernisierung bewies Familie Wolfrum Augenmaß: unter größtmöglichem
Erhalt des äußeren Erscheinungsbildes wurde zunächst das Wohnhaus modernisiert.
Dabei blieb das innere Fachwerk ebenso erhalten wie die alten Türen und Beschläge.
Das geschah auch beim Zusammenlegen kleinerer Wohnräume oder beim Öffnen von
Decken: Selbst der Ern, der großzügige Hausflur also, hatte wieder die Funktion, die
er früher einmal hatte.
Der Kuhstall war allerdings einsturzgefährdet und konnte nicht mehr gerettet werden.
Der Abriss wurde nicht kaschiert, sondern die Lücke wurde genutzt, um den Bauerngarten
zu vergrößern und an den Hof anzuschließen. Dabei wurde darauf geachtet,
dass das Kopfsteinpflaster in Gänze erhalten blieb, auch die Backsteinpflasterungen
der Versorgungsgänge im Stall. Unter dem Stall kam ein zehn Meter tiefer mittelalterlicher
Brunnen zum Vorschein, der nicht zugeschüttet, sondern mit großen Steinplatten
abgedeckt war.
Aus dem Pferdestall wurden nach und nach die Boxen zurückgebaut und es entstanden
Werkstätten und Lagerräume. So fand auch eine Töpferwerkstatt Platz. Der Heuboden
hingegen wurde zu einem „Feierboden“ umgebaut: Es entstand ein Festraum
von gut 160 qm, der von innen Anschluss an die Küche hatte und auch durch eine
Außentreppe erreichbar war. Bis auf diesen Zugang ist auch dieser Gebäudeteil von
außen so erhalten geblieben, wie es ursprünglich nach seiner bisherigen Nutzung gestaltet
worden war.
Die leere Scheune war imposant durch ihre Größe
und bauliche Solidität – deren Nutzung wurde zunächst
einmal zurückgestellt.
Die Umbauten insgesamt wurden bestimmt davon,
den eigentlichen Charakter eines Dreiseithofes (auch
mit der Betonung auf: Hof) zu erhalten, selbst wenn
die landwirtschaftliche Nutzung nicht mehr Kern war.
So wurde auch Wert darauf gelegt, den Hof nicht nur
privat zu nutzen, sondern zu öffnen für dörfliche Belange.
Der „Feierboden“ wurde nicht nur für private
Feiern genutzt, sondern hin und wieder auch Bestandteil
bei Dorffesten. Hier fanden Lesungen statt,
Vorträge über Bio-Wein, selbst kleine Konzerte gab
es, die immer auch für alle zugänglich waren. Auch
die Saratoga Seven und sogar die Comedian Harmonists
hatten einen Auftritt. Im Jahr 2001 fand unter
Bürgermeister Wolfgang Beyer auf dem gesamten Gelände
des Hofes drei Tage lang die 775-Jahrfeier des
Dorfes statt. Höhepunkte waren u. a. der Auftritt der
Big Band des MTV-Orchesters und der Auftritt des Weltmeisters im Formationstanzen unter Trainer Rüdiger
Knaack.
Als der Mühlenverein der historischen Bockwindmühle
eine Backstube suchte, um aus dem in der Mühle gemahlenem
Korn Brot zu backen, wurde ein Raum im
Erdgeschoß des Hühnerstalls dafür umgebaut und der
historische Backofen der Familie Finger installiert.
Für die Scheune gab es später fertige Pläne, hier die
Feuerwehr von Dettum unterzubringen. Platz für
drei Wehren inkl. Aufenthaltsräumen und Schulungsraum
waren möglich. Nach Abschluss der Planung
entschloss sich der Gemeinderat dann doch für
einen Neubau direkt neben der Grundschule.
Vom Bauernhof zum Kulturhof
Komplettiert wurde die Umwidmung des Hofes durch den Umbau des Hühnerstalls in
ein Atelier. 1979 kam Familie Wolfrum mit dem Künstler Günter Kämpfe überein, den
Hühnerstall komplett umzubauen, um darin ein Atelier entstehen zu lassen. Günter
Kämpfe war auch Kunsterzieher gewesen und hatte viel Erfahrung mit Bauen. So hat
er in seiner Zeit am Wilhelm-Gymnasium in Braunschweig den Kunsttrakt der Schule umgebaut. In seiner Zeit danach an der Großen Schule in Wolfenbüttel wurde nach
seinen Plänen der Kunstpavillon der Schule gebaut. Und für sein künstlerisches Schaffen
hatte er sich auch schon eine Scheune in Dorstadt umgebaut. Nun gab es in Dettum
die Möglichkeit, Atelier mit Ausstellungsraum und Wohnung zu kombinieren –
und näher an die Familie zu rücken, war doch Katharina Wolfrum seine Tochter.
Mit der Hilfe auch von Manfred Wolfrum wurde nun der Stall entkernt und im ersten
Stock die Trenndecke zum Dach herausgenommen. So entstand im ersten Stock ein
variabler lichter Ausstellungsraum von 160 qm, der von nun an für eine Dauerausstellung
der Werke von Günter Kämpfe genutzt wurde. Ebenfalls im ersten Stock wurde
ein Wohnraum mit Kamin installiert. Im Erdgeschoss richtete der Künstler seine Werkstat
ein. Ein Materialraum war ebenfalls nötig, denn er schweißte seine Kunstwerke
aus gefundenem Altmetall. Die übrigen Räume dienten als Garagen.
Auch hier wurden alle Modernisierungen und Umbauten so behutsam umgesetzt, dass
die Fassade komplett und somit der Hofcharakter erhalten blieb. Im Wohnhaus entstand
zusätzlich eine Einliegerwohnung.
Der Grundtenor des Hofes: „Wir wohnen hier und wollen etwas für das Dorf tun“
erfasste
auch Günter Kämpfe: Der Künstler entwarf Informationsschilder für die Bockwindmühle.
Und es sprach sich bei den Bauern herum, dass er gern Eisenteile, die sie
beim Pflügen fanden, von ihnen annahm und daraus kleine Kunstwerke fertigte. Auch
seine Fähigkeit zu schweißen nahmen umgekehrt einige Bauern gern an: Ein Geben
und Nehmen. Und von Zeit zu Zeit öffnete er auch Atelier, Werkstatt und Ausstellungsraum
für Interessierte aus dem Dorf. So mancher Besuch endete am Abend vor dem
Kamin zum klugen Austausch nicht nur über Kunst.
[...]
1992 verstarb Günter Kämpfe. Die Familie Wolfrum entschied sich, zunächst das entstandene
Ensemble im ehemaligen Hühnerstall zu erhalten. Zehn Jahre später entschloss
sich Dr. Wolfrum, in einem kleineren Teil des Ateliers eine Wohnung zu bauen.
Zurzeit wird sie von Arnold Bahrke, einem Künstler und ehemaligem Schüler von Günter Kämpfe, bewohnt. Ausstellungen fanden nun nicht mehr statt.
Als Dr. Wolfrum in die benachbarte Pfarrhofscheune komfortable Wohnungen in historischer
Umgebung einbaute, wurde für die Mieter eine Grünfläche vom Dreiseithof abgetrennt.
Die Backstube fand ebenso ein neues Zuhause im Erdgeschoß der ehemaligen
Pfarrhofscheune. Dr. Wolfrum zog nach Wolfenbüttel. Der Resthof – bis auf das
Atelier im Hühnerstall, die Scheune und der abgetrennte Mietergarten – wurde verkauft.
Es kehrte Ruhe ein.
Doch Dettum blieb in den 40 Jahren in Bewegung. Einerseits gibt es kaum noch
Kleinbauernhöfe, andererseits werden die sonst brachliegenden Höfe neu belebt durch
Umbau in Wohnungen, wie z. B. auch das alte Schulhaus neben der Kirche. Weitere
Neubaugebiete wurden erschlossen. Die „Verstädterung“ des Dorfes brachte auch Veränderungen:
Einkaufsläden und Gaststätten schlossen. Ein ansehnliches Dorfgemeinschaftshaus
– das Beeke-Hus – wurde errichtet. Der Dorfarzt hörte auf. Die Banken
verschwanden. Dafür kamen neue Schwerpunkte: ein Tennisverein gründete sich, die
Kirche organisiert kulturelle Veranstaltungen, Hartwig Thies schaffte mit der „Zeitnarbe“
ein einzigartiges zeitgeschichtliches Museum.
Dazu passt es, dass nun auch das „Atelier im Hühnerstall“ neu belebt wird. Eine Galerie
wird entstehen, die zum einem eine Dauerausstellung der Werke von Günter
Kämpfe zeigen wird. Dazu wird auch seine Werkstatt wiedereingerichtet, so dass sich
Besucher gut vorstellen können, wie diese Kunst entstanden ist. Auch werden sie eingeladen,
aus dem Material es auch einmal selbst zu versuchen.
Zum Anderen wird der größere Teil der Galeriefläche für Wechselausstellungen anderer
Künstlerinnen und Künstler genutzt werden. Dabei wird zentral sein, dass die Werke ähnliche Phantasie und Witz zeigen wie die Werke von Günter Kämpfe.
Das direkt an dieses Atelier und Galerie südlich angrenzende Wohnhaus (Hauptstraße
Nr. 5) wird in nächster Zeit zum Kulturhaus umgebaut. Der dortige Garten dient dann
als öffentlich zugänglicher Skulpturengarten, in denen standhafte Werke verschiedener Bildhauer und Künstler ihre Heimat finden sollen.
Und so ändern sich Haus und Hof zu:
Galerie und Kulturhaus – offen für Dettum – und darüber hinaus