Geschichte

Die Geschichte

Haus und Hof – Vom Dreiseithof zur Galerie


Klaus Kämpfe-Burghardt
Landkreis Wolfenbüttel (Hrsg.): Heimatbuch 2019, S. 115 - 120.

Ende der 1970er Jahre standen für meine Schwester Katharina Wolfrum und ihren
Mann, den Radiologen Dr. Manfred Wolfrum fest, dass sie in der Gegend um Wolfenbüttel sesshaft bleiben wollten. Jedoch wollten sie ein ruhigeres Umfeld für ihre Kinder und mehr Platz, um ihre Projekte zu gestalten. In der Stadt selbst war nichts Adäquates zu finden. So schauten sie sich im Umland um. Von der Stadt aufs Land zu ziehen, war seit den letzten zehn Jahren nicht unüblich mehr in dieser Zeit.

Dettum – das Dorf im Umbruch
Recht bald war der Borcherssche Hof in Dettum auf der Liste der Möglichkeiten. Das große Dorf bot damals noch alles, was für die Versorgung einer Familie nötig war: ein Kindergarten, gleich daneben eine Grundschule und sogar ein Freiluftbad. Dazu eine intakte Kirchengemeinde, zwei Gaststätten, funktionierende Sportanlagen. Zwei Einkaufsläden, eine Bäckerei und zwei Bankfilialen, zwei Postkästen und zwei (!) Kaugummiautomaten, dazu die Haltestelle für den Bus der Kreisbücherei. Der Dorfarzt hatte seine Praxis im Ort und kam im Notfall auch gerne mal ins Haus. Wollte man nach Wolfenbüttel – oder später die Kinder zum Gymnasium, gab es den Bahnhof mit dem Pendelzug zwischen Schöppenstedt und Wolfenbüttel, gar Braunschweig. Außerdem fuhr täglich mehrfach der Bus und vom Nachbarörtchen Hachum sogar in direkter Linie nach Braunschweig. Und doch war das Dorf im Umbruch: Die Schule war schon längst keine Dorfschule mehr, sondern eine wachsende Mittelpunktschule. Kleine und mittlere Bauernhöfe gaben auf: teilweise war die Betriebsgröße unrentabel geworden, teilweise gab es keinen aus der Familie, der übernehmen wollte. Das nahe VW-Werk lockte dann doch viele mit sehr attraktiven Löhnen und stattlichen Betriebsrenten. Das Dorf wurde für die schon lange dort lebenden Menschen eher zum Schlafdorf. Gleichzeitig war die Lage und die Versorgung des Dorfes so attraktiv, dass Neubaugebiete an der Peripherie ausgewiesen werden konnten, die schnell verkauft waren. So änderte sich die demographische Zusammensetzung Dettums vom von bäuerlichen Klein- und Großbetrieben geprägten Dorf zu einem Ort, in dem Hinzugezogene bald die Mehrheit stellen sollten. 

Der Borchers-Hof
Schräg gegenüber der imposanten Dorfkirche liegt dieser Dreiseithof. Rechts in Längsrichtung, mit dem Giebel an der Straße, wie bei den Dreiseithöfen üblich, das ehemalige Landvogthaus, ein großzügiges Wohnhaus stabil gebaut mit Fachwerk aus 300 Jahre alten Eichenbalken. Dahinter schloss sich der Pferdestall mit geräumigen Boxen und einem 160 qm großen Heuboden an. Quer dazu ganz hinten die großräumige Scheune mit Durchfahrt von der Parkstraße. Längs dazu schloss sich linker Hand der weiträumige damals schon moderne Kuhstall mit getrennten Futter- und Mistgängen an. Er war gemauert und auf Eisensäulen, die oben mit geschmückten Kapitellen abschlossen, ruhte eine massive Kappendecke, auch Berliner Decke oder Preußische Decke, in den tragenden Doppel-T-Trägern. Darüber ein geräumiger Strohschober, mit Falltüren so dass das Stroh direkt auf die Versorgungsgänge des Stalles geworfen werden konnte. Versetzt dazu schloss sich der Hühnerstall an mit einer Grundfläche von 220 m2 ausgelegt für mindestens 2.000 Hühner über zwei Etagen in „Bodenhaltung“. Dieser Stall reichte bis vorne an die Hauptstraße, so dass zwischen Wohnhaus und Hühnerstall das Haupteinfahrtstor war. Insgesamt also ein wirklich stattliches Anwesen, ein repräsentativer niedersächsischer Dreiseithof, der in früheren Zeiten auch als Landvogthof dem Landvogt als Wohn- und Regierungsstätte gedient hatte. Es ist leider nichts darüber bekannt, ob und in welchem Umfang die alten Landvogtrechte, wie „der 10. Scheffel Korn“ auf spätere Besitzer übergegangen sind. Lediglich bekannt ist, dass durch einen Doppelmord des Schweizers (Melker) Winkler an seiner Herrin Sidonie Schmidt und ihrer Haushälterin der Hof später an Bauer Borchers übergegangen war. Nun hatte die Familie Schneider, Nachfolger von Bauer Borchers, die Landwirtschaft aufgegeben. Das Ackerland war an den neu aus Salzgitter zugezogenen Bauer Bruer verkauft. Die Stallungen waren leer, die Maschinen und Fahrzeuge verkauft, der Bauerngarten überwuchert. Hühner, Pferde, Kühe gab es nicht mehr, Funktionsbereiche wie Waschküche, Werkstatt, Lagerräume für Getreide, Heu, Obst nur noch wenig erkennbar. Der Hof als Wirkungsstätte eines Landwirtschaftsbetriebs und Lebensmittelpunkt s einer Bauernfamilie mit Gesellen, Knechten und Erntehelfern gab es so nicht mehr. Dem Gebäude-Ensemble musste – wie so viele andere Höfe in Dettum und anderen Dörfern – ein neuer Mittelpunkt gegeben werden: 

Vom Hof also zum (Wohn)Haus
Bei der Modernisierung bewies Familie Wolfrum Augenmaß: unter größtmöglichem Erhalt des äußeren Erscheinungsbildes wurde zunächst das Wohnhaus modernisiert. Dabei blieb das innere Fachwerk ebenso erhalten wie die alten Türen und Beschläge. Das geschah auch beim Zusammenlegen kleinerer Wohnräume oder beim Öffnen von Decken: Selbst der Ern, der großzügige Hausflur also, hatte wieder die Funktion, die er früher einmal hatte. Der Kuhstall war allerdings einsturzgefährdet und konnte nicht mehr gerettet werden. Der Abriss wurde nicht kaschiert, sondern die Lücke wurde genutzt, um den Bauerngarten zu vergrößern und an den Hof anzuschließen. Dabei wurde darauf geachtet, dass das Kopfsteinpflaster in Gänze erhalten blieb, auch die Backsteinpflasterungen der Versorgungsgänge im Stall. Unter dem Stall kam ein zehn Meter tiefer mittelalterlicher Brunnen zum Vorschein, der nicht zugeschüttet, sondern mit großen Steinplatten abgedeckt war. Aus dem Pferdestall wurden nach und nach die Boxen zurückgebaut und es entstanden Werkstätten und Lagerräume. So fand auch eine Töpferwerkstatt Platz. Der Heuboden hingegen wurde zu einem „Feierboden“ umgebaut: Es entstand ein Festraum von gut 160 qm, der von innen Anschluss an die Küche hatte und auch durch eine Außentreppe erreichbar war. Bis auf diesen Zugang ist auch dieser Gebäudeteil von außen so erhalten geblieben, wie es ursprünglich nach seiner bisherigen Nutzung gestaltet worden war.

Die leere Scheune war imposant durch ihre Größe und bauliche Solidität – deren Nutzung wurde zunächst einmal zurückgestellt. Die Umbauten insgesamt wurden bestimmt davon, den eigentlichen Charakter eines Dreiseithofes (auch mit der Betonung auf: Hof) zu erhalten, selbst wenn die landwirtschaftliche Nutzung nicht mehr Kern war. So wurde auch Wert darauf gelegt, den Hof nicht nur privat zu nutzen, sondern zu öffnen für dörfliche Belange. Der „Feierboden“ wurde nicht nur für private Feiern genutzt, sondern hin und wieder auch Bestandteil bei Dorffesten. Hier fanden Lesungen statt, Vorträge über Bio-Wein, selbst kleine Konzerte gab es, die immer auch für alle zugänglich waren. Auch die Saratoga Seven und sogar die Comedian Harmonists hatten einen Auftritt. Im Jahr 2001 fand unter Bürgermeister Wolfgang Beyer auf dem gesamten Gelände des Hofes drei Tage lang die 775-Jahrfeier des Dorfes statt. Höhepunkte waren u. a. der Auftritt der Big Band des MTV-Orchesters und der Auftritt des Weltmeisters im Formationstanzen unter Trainer Rüdiger Knaack. Als der Mühlenverein der historischen Bockwindmühle eine Backstube suchte, um aus dem in der Mühle gemahlenem Korn Brot zu backen, wurde ein Raum im Erdgeschoß des Hühnerstalls dafür umgebaut und der historische Backofen der Familie Finger installiert. Für die Scheune gab es später fertige Pläne, hier die Feuerwehr von Dettum unterzubringen. Platz für drei Wehren inkl. Aufenthaltsräumen und Schulungsraum waren möglich. Nach Abschluss der Planung entschloss sich der Gemeinderat dann doch für einen Neubau direkt neben der Grundschule. 

Vom Bauernhof zum Kulturhof
Komplettiert wurde die Umwidmung des Hofes durch den Umbau des Hühnerstalls in ein Atelier. 1979 kam Familie Wolfrum mit dem Künstler Günter Kämpfe überein, den Hühnerstall komplett umzubauen, um darin ein Atelier entstehen zu lassen. Günter Kämpfe war auch Kunsterzieher gewesen und hatte viel Erfahrung mit Bauen. So hat er in seiner Zeit am Wilhelm-Gymnasium in Braunschweig den Kunsttrakt der Schule umgebaut. In seiner Zeit danach an der Großen Schule in Wolfenbüttel wurde nach 
seinen Plänen der Kunstpavillon der Schule gebaut. Und für sein künstlerisches Schaffen hatte er sich auch schon eine Scheune in Dorstadt umgebaut. Nun gab es in Dettum die Möglichkeit, Atelier mit Ausstellungsraum und Wohnung zu kombinieren – und näher an die Familie zu rücken, war doch Katharina Wolfrum seine Tochter. Mit der Hilfe auch von Manfred Wolfrum wurde nun der Stall entkernt und im ersten Stock die Trenndecke zum Dach herausgenommen. So entstand im ersten Stock ein variabler lichter Ausstellungsraum von 160 qm, der von nun an für eine Dauerausstellung der Werke von Günter Kämpfe genutzt wurde. Ebenfalls im ersten Stock wurde ein Wohnraum mit Kamin installiert. Im Erdgeschoss richtete der Künstler seine Werkstat ein. Ein Materialraum war ebenfalls nötig, denn er schweißte seine Kunstwerke aus gefundenem Altmetall. Die übrigen Räume dienten als Garagen. Auch hier wurden alle Modernisierungen und Umbauten so behutsam umgesetzt, dass die Fassade komplett und somit der Hofcharakter erhalten blieb. Im Wohnhaus entstand zusätzlich eine Einliegerwohnung. Der Grundtenor des Hofes: „Wir wohnen hier und wollen etwas für das Dorf tun“ erfasste auch Günter Kämpfe: Der Künstler entwarf Informationsschilder für die Bockwindmühle. Und es sprach sich bei den Bauern herum, dass er gern Eisenteile, die sie beim Pflügen fanden, von ihnen annahm und daraus kleine Kunstwerke fertigte. Auch seine Fähigkeit zu schweißen nahmen umgekehrt einige Bauern gern an: Ein Geben und Nehmen. Und von Zeit zu Zeit öffnete er auch Atelier, Werkstatt und Ausstellungsraum für Interessierte aus dem Dorf. So mancher Besuch endete am Abend vor dem Kamin zum klugen Austausch nicht nur über Kunst.

[...]

1992 verstarb Günter Kämpfe. Die Familie Wolfrum entschied sich, zunächst das entstandene Ensemble im ehemaligen Hühnerstall zu erhalten. Zehn Jahre später entschloss sich Dr. Wolfrum, in einem kleineren Teil des Ateliers eine Wohnung zu bauen. Zurzeit wird sie von Arnold Bahrke, einem Künstler und ehemaligem Schüler von Günter Kämpfe, bewohnt. Ausstellungen fanden nun nicht mehr statt. Als Dr. Wolfrum in die benachbarte Pfarrhofscheune komfortable Wohnungen in historischer Umgebung einbaute, wurde für die Mieter eine Grünfläche vom Dreiseithof abgetrennt. Die Backstube fand ebenso ein neues Zuhause im Erdgeschoß der ehemaligen Pfarrhofscheune. Dr. Wolfrum zog nach Wolfenbüttel. Der Resthof – bis auf das Atelier im Hühnerstall, die Scheune und der abgetrennte Mietergarten – wurde verkauft. Es kehrte Ruhe ein. Doch Dettum blieb in den 40 Jahren in Bewegung. Einerseits gibt es kaum noch Kleinbauernhöfe, andererseits werden die sonst brachliegenden Höfe neu belebt durch Umbau in Wohnungen, wie z. B. auch das alte Schulhaus neben der Kirche. Weitere Neubaugebiete wurden erschlossen. Die „Verstädterung“ des Dorfes brachte auch Veränderungen: Einkaufsläden und Gaststätten schlossen. Ein ansehnliches Dorfgemeinschaftshaus – das Beeke-Hus – wurde errichtet. Der Dorfarzt hörte auf. Die Banken verschwanden. Dafür kamen neue Schwerpunkte: ein Tennisverein gründete sich, die Kirche organisiert kulturelle Veranstaltungen, Hartwig Thies schaffte mit der „Zeitnarbe“ ein einzigartiges zeitgeschichtliches Museum. Dazu passt es, dass nun auch das „Atelier im Hühnerstall“ neu belebt wird. Eine Galerie wird entstehen, die zum einem eine Dauerausstellung der Werke von Günter Kämpfe zeigen wird. Dazu wird auch seine Werkstatt wiedereingerichtet, so dass sich Besucher gut vorstellen können, wie diese Kunst entstanden ist. Auch werden sie eingeladen, aus dem Material es auch einmal selbst zu versuchen. Zum Anderen wird der größere Teil der Galeriefläche für Wechselausstellungen anderer Künstlerinnen und Künstler genutzt werden. Dabei wird zentral sein, dass die Werke ähnliche Phantasie und Witz zeigen wie die Werke von Günter Kämpfe. Das direkt an dieses Atelier und Galerie südlich angrenzende Wohnhaus (Hauptstraße Nr. 5) wird in nächster Zeit zum Kulturhaus umgebaut. Der dortige Garten dient dann als öffentlich zugänglicher Skulpturengarten, in denen standhafte Werke verschiedener Bildhauer und Künstler ihre Heimat finden sollen.  
Und so ändern sich Haus und Hof zu:  
Galerie und Kulturhaus – offen für Dettum – und darüber hinaus
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